JULIA JOST
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Vor einiger Zeit – Österreich erinnert sich noch gut an die Ibiza-Vorfälle unter Energy-Substanzen-Einfluss – sagten Sie: SO SIND WIR NICHT. Lieber Herr Bundespräsident, ich fürchte, Sie lagen falsch. Genau so sind wir. Die sich häufenden Vorfälle können Ihnen doch nicht entgehen? Hohe Beamte landen reihenweise vor Gericht oder nehmen Einfluss auf die Justiz, damit dies nicht passiert. Illegale Privatisierungen, Postenschacherei, Beratungsgelder (deren Empfänger nach ihrer Leistung suchen), Einflussnahme auf die freie Presse … Das alles ist in Österreich täglicher Standard, und man sieht und hört nur ein Gähnen durch die Bevölkerung ziehen. Denn niemand interessiert sich dafür. Die Ausnahme des Beschämenden ist hierzulande die Normalität.
Lieber Herr Bundespräsident, vor kurzem habe ich mit einer Freundin und ihrem kleinen Sohn die Nazi-Begrüßungsworte in großen Buchstaben (vor die Nepomuk-Kirche im 2. Bezirk geschmiert gesehen und) von der Straße geschrubbt. Ein Paar kam aus der irrsinnig heiligen katholischen Kirche und sagte: Gut, dass Sie das wegschrubben, das steht hier eh schon seit 2 Wochen. Das Paar ging seelenruhig 2 Wochen (und länger, hätten wir nicht unsere Pflicht erfüllt,) über die Schmiererei in ihre Kirche, ohne auf die Idee zu kommen, etwas zu unternehmen. Herr Bundespräsident! SO SIND WIR!
Nachdem im Jänner 2025 im Umfeld des Grazer Akademikerballes (jeder Mensch weiß, welche Gesinnung schlagende Burschenschafter vertreten. Ständig findet man Nazi-Devotionalien in Clubhäusern, Faksimiles von SS-Liederbüchern sind fester Bestandteil der Regale solcher Clubhäuser, und jede Tante Mizi weiß Bescheid! Und: gähnt oder applaudiert sogar) eine Person einem Burschi das Kapperl vom Kopf gewischt hatte, sahen sich die Cobra und die Polizei mit Hundestaffeln dafür verantwortlich, nachts fünf Wohnungen aufzusägen (Nikita Reichelt in der aktuellen konkret-Ausgabe), die Räume zu stürmen und zu durchsuchen. Sieben Personen sind wegen schweren Raubes – als ob irgendwer dieses Kappl haben wollte, nicht einmal zu Fasching als Fascho – angeklagt worden. All das habe ich, haben wir mit unseren Steuergeldern bezahlt. Ein Gericht beurteilte die Untersuchungen als rechtswidrig. Der Schaden bleibt aber bestehen. Im Namen des deutschen Schäferhundes, der Polizei und der Cobra. Herr Bundespräsident, SO SIND WIR!
Erinnern Sie sich an die polizeilichen Maßnahmen am Peršmanhof in Kärnten? Die Polizei hat eine linke Tagung geräumt. Einfach so. SO SIND WIR EINFACH! Als Kärntnerin kann ich nur auf eine singuläre Sache stolz sein: auf die Kärntner Slowen:innen, die gegen die Nazis kämpften. Dafür steht der Hof und stand die Veranstaltung. Die Kärntner Polizei griff gegen Recht und Pflicht eines jeden mitdenkenden Menschen ein und mischte die Veranstaltung für Zivilcourage auf. SO SIND WIR.
Lieber Herr Bundespräsident! Ich könnte hier noch zig Beispiele anführen. 2 Freundinnen, offensichtlich queer und links, beide keine 1,60 Meter groß und zierlich, wurden im Rahmen einer Polizeikontrolle in Wien gewaltvoll eingesperrt (ich selbst habe die Videoaufzeichnungen von schockierten Passant:innen gesichtet). Eine der jungen Frauen hatte kein Fahrrad-Vorderlicht. Sie wollte die Strafe dafür gern zahlen. Brachte aber nichts. 60 Polizisten und Schäferhunde rückten an. Später gab das Gericht den Frauen recht. Aber der Schaden bleibt. Monetär wegen der Anwaltskosten (und für den Staat), psychisch sowieso. SO SIND WIR.
Sehr geehrter Bundespräsident! Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, ich schäme mich für vieles in diesem Land.
Und noch etwas: Dies ist eine Kampfansage! Ich werde nicht zusehen, wie sich die Geschichte wiederholt!
Julia Jost